Passt Geschichte in einen Parlamentsbeschluss?

Martina Michels


In Brüssel wird eine umstrittene Resolution verabschiedet – Linksfraktion stimmt nicht zu

Passt Geschichte in einen Parlamentsbeschluss? Abgeordnete des Europaparlaments dachten sich nach der Sommerpause: Ja das geht, man kann die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts in eine Resolution pressen. Auf Initiative konservativer polnischer Abgeordneter stand am 19. September 2019 eine Resolution mit dem Titel »Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas« zur Abstimmung. Diese Entschließung bündelt Erinnerung sehr lückenhaft. Zwar wird Ausschwitz erwähnt, doch weder die Singularität des industriellen Massenmordes noch die Befreiung dieses und anderer Lager durch die Sowjetarmee werden aufgeführt. Stattdessen erfahren wir, wie die Weichen für den 2. Weltkrieg gestellt wurden und das liest sich dann so:

»... in der Erwägung, dass vor 80 Jahren, am 23. August 1939, die kommunistische Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutsche Reich den als Hitler-Stalin-Pakt bekannten Nichtangriffspakt und dessen Geheimprotokolle unterzeichneten, womit die beiden totalitären Regime Europa und die Hoheitsgebiete unabhängiger Staaten untereinander aufteilten und in Interessensphären einteilten und damit die Weichen für den Zweiten Weltkrieg stellten«.

Ein offener Brief des international agierenden linken TransformNetzwerkes kommentiert: »Diese Behauptung klammert aus, dass es die liberalen westlichen Demokratien waren, die durch ihr Verhalten die Nazi-Expansion erlaubten, so bei der Invasion Äthiopiens (1935), dem Spanischen Bürgerkrieg, in dem Deutschland und Italien den rechtsextremen Staatsstreich des General Franco unterstützten (1936), dem ›Anschluss‹ Österreichs (1938) und der Politik des Appeasement in München, die die Zerstörung und Zerstückelung der Tschechoslowakei, nicht nur durch Deutschland, sondern auch durch Polen und Ungarn zur Folge hatte.«
Die Unterzeichner*innen des Transform-Briefes zweifeln an, ob ein Parlament überhaupt der richtige Ort ist, eine Lesart der Geschichte festzulegen ohne Forschung und breite gesellschaftliche Debatten. Derartige Revisionen der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts sind eher dazu angetan, einen modernen Antikommunismus zu begründen, indem einmal mehr die Gleichsetzung Hitlerdeutschlands und der Sowjetunion bemüht wird. 82 Prozent der Abgeordneten stimmen letztlich für die Entschließung, 66 Abgeordnete stimmen dagegen, das sind zehn Prozent, und 52, also nur acht Prozent der Abgeordneten, enthielten sich der Stimme.
Die linke Fraktion, die GUENGL, hat dieser Resolution nicht zugestimmt. Von den deutschen Sozialdemokrat*innen hat nur Dietmar Köster gegen diesen Text gestimmt. Ansonsten stärkte eine übergroße Mehrheit von Rechtsaußen bis zu den Grünen mit dieser Entscheidung einen politischen Diskurs, der uns im kommenden Jahr, wenn sich am 8. Mai 2020 die Befreiung vom deutschen Faschismus zum 75. Mal jährt, in anderen Formen begegnen wird. Der 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus ist zugleich ein Datum gegen Geschichtsrevisionismus, Schlussstrichdebatten und Relativierung der Verbrechen der Nazis.
So wie wir es für geboten halten, den Stalinismus und seine Verbrechen fortgesetzt aufzuarbeiten, so wenden wir uns gegen eine Gleichsetzung des Stalinismus mit dem Kommunismus. Denn dies unterschlägt nicht nur, dass viele Opfer Stalins selbst Kommunist*innen waren, dieser Revisionismus untergräbt zugleich den antifaschistischen Widerstand, indem Kommunist*innen, Sozialist*innen, Sozialdemokrat*innen, Liberale und religiöse Menschen gemeinsam kämpften und auch verfolgt wurden. Letztlich will ich die Eingangsfrage:

»Passt Geschichte in einen Parlamentsbeschluss?« – nicht nur wenn es in der dargestellten Form passiert – mit nein beantworten. Angesichts der Ausstellung im Haus der Europäischen Geschichte, einer Institution, die der EU direkt untersteht, möchte ich sogar sagen: Auch in ein Museum passt eine europäische Geschichte mit allerhand blinden Flecken keineswegs.

»Ja, wir wollen auch provozieren«, war eine der elegantesten Formulierungen der Chef-Kuratorin des neuen Brüsseler Hauses der Europäischen Geschichte, Dr. Andrea Mork. Sie führte im Oktober die Mitglieder des Kulturausschusses durch das multimediale und multisprachliche Museum, welches man normalerweise selbstständig mit einem elektronischen Guide durchquert. Wer nicht schon beim Gang durch die Jahrhunderte die Auseinandersetzung mit der blutigen europäischen Kolonialgeschichte vergebens gesucht hat, stutzt spätestens dann, wenn man dem 20. Jahrhundert begegnet und gestalterisch in gleicher Größe und in Symmetrie dazu aufgefordert wird, zwei Diktaturen vor dem 2. Weltkrieg, die in Deutschland und die in der Sowjetunion, zu vergleichen. Vor allem soll man jedoch auch Gemeinsamkeiten entdecken.
Hier stehen jeden Tag Schülerinnen und Schüler vor einer Art musealer Bebilderung der aktuell verabschiedeten Resolution des Europaparlaments. Museumsbesucher*innen unter 40 Jahren könnten in die Lage gebracht werden, gar keine Provokation zu bemerken, sondern diese Art Relativierung des deutschen Faschismus als vermeintlichen Erkenntnisgewinn nach Hause zu tragen. Hier muss dringend etwas passieren und zwar in der öffentlichen Debatte statt mit politischen Resolutionen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel plant zum Beispiel alternative Führungen. Doch das wird nicht reichen, wenn wir eine antifaschistische und antirassistische Bildung und Geschichtsschreibung wieder im öffentlichen Dialog fest verankern wollen.

Martina Michels, MdEP